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Wenn die Vögel aus dem Baum fliegen…oder wie lernt ein „Notenlegastheniker“

Aktualisiert: 23. Dez. 2021

(English version below)


Wenn die Vögel aus dem Baum fliegen wird es still. Still im Kopf…meine Unfähigkeit, mich auf Dinge zu konzentrieren bzw. fokussieren, wenn ich unter Druck stehe, fühlt sich so an. Der Druck ist wie ein Sturm, der zuerst für Unruhe im Baum und schließlich dazu führt, dass die Gedanken wie Vögel aus dem Baum… oder eben meinen Kopf fliegen. Ich kenne dieses Phänomen bereits aus dem Mathematikunterricht, wo mein Baum regelmäßig leergefegt war. Das ist bis heute so, dass ich unter Zeitdruck weder Kopfrechnen, noch auf Befehl sagen, wo rechts oder links ist, oder Noten lesen kann. Natürlich kann ich rechnen, weiß ich wo rechts und links sind und kann, wenn ich Ruhe beim Lernen habe, auch Noten lesen. Der Sturm, der meine Vögel aus dem Baum scheucht, heißt Zeitdruck. Sobald Zeitdruck ins Spiel kommt, weil zum Beispiel jemand in diesem Moment etwas von mir erwartet…mir eine Rechenaufgabe gestellt oder mich nach dem Weg gefragt hat, mutiere ich zum Legastheniker. Um das Rechnen drücke ich mich wo es geht…ich mag da überhaupt gar nicht erst drüber nachdenken…bevor die Vögel den Baum verlassen, fallen sie in diesem Fall direkt vom Ast. Bei der Wegbeschreibung fuchtele ich mit den Armen und zeige den Weg mit großen Gesten in dem ich bei der Beschreibung nach rechts oder links zeige und nach kurzem, angestrengtem Überlegen auch die richtige Richtung ansagen kann.

Und was macht ein Notenlegastheniker? Ich habe meine Schwierigkeiten mit dem „Noten-vom-Blatt lesen“ immer darauf geschoben, dass ich erst sehr spät angefangen habe, Noten zu lernen. Ich glaube, ich muss so um die 30 Jahre alt gewesen sein, hatte bis dahin immer nur Musik nach Gehör gespielt. Plötzlich sollte ich das, was ich ohnehin gehört hatte, lesen. Meine Finger wussten anfangs schon immer was sie spielen sollten bevor die Augen die Noten erfasst und in Schmalbandgeschwindigkeit an mein Gehirn weitergeleitet hatten. Bis dann mein Gehirn an die zuständigen Finger den Befehl gab, was zu tun sei, ging noch einmal einige Zeit ins Land…soll heißen ich hatte eine echt lange Leitung. Und die habe ich bis heute, wenn es um das Lernen von neuen Tunes geht. Ich versuche weitestgehend zu vermeiden, im Unterricht einen neuen Tune direkt mit dem Lehrer anfangen und lernen zu wollen. Eben aus dem Grund meiner zeitlupenhaften Reizweiterleitung zwischen Augen-Gehirn-Gehirn-Finger. Hier brauche ich einfach meine eigene Zeit und Geschwindigkeit um mit meinem Scanner überhaupt erst mal zu erfassen, was da auf dem Blatt steht. DENN…im Baum herrscht bereits reges Geflatter, wenn ich den Tune noch nicht kenne und sich der Druck aufbaut, etwas vom Blatt spielen zu müssen, wenn ich nicht weiß wie es sich anhört. Es gibt ja Leute, die sich ein Notenblatt nur anschauen und sagen: “Ja, klingt gut“. Zu denen gehöre ich leider nicht...und was soll ich sagen…finde ich auch nicht schlimm. Ich finde es nicht verwerflich, sich die Tunes vorher anzuhören. Wozu quälen, etwas spielen zu müssen, was man noch nie gehört hat? Mag sein, dass ich hier den Weg des geringsten Widerstandes gehe und manche Lehrer der „alten Schule“ meinen, man müsste das so und so können und versuchen, die Dinge vom Blatt zu lesen und umzusetzen. Warum? Was spricht dagegen, zuerst seine Ohren zu bemühen? Lernstrategien an eigene Fähig- und Fertigkeiten anpassen, finde ich heutzutage absolut legitim, setzt allerdings auch eine gewisse „Beweglichkeit“ des Lehrenden voraus.

Als es noch keine Noten fürs Piping in der heutigen Form gab, wurden die Lieder gesungen und der Schüler hat gelernt, nach dem Gesang des Lehrers zu spielen. Seine größten Verbündeten beim Lernen waren seine Ohren und nicht die Augen. Das beste Beispiel hierfür ist der Canntaireachd im Piobaireachd. Fakt ist sowieso, je mehr Sinne am Lernprozess beteiligt sind, umso effektiver gestaltet sich dieser, bzw. lässt sich das Gelernte umsetzen. Ich habe für mich festgestellt, dass ich sogar genau 5 Sinne benötige um meine Tunes zu lernen.

Das sind:

1. Äußeres Hören

2. Inneres Hören

3. Äußeres Sehen

4. Inneres Sehen

5. Inneres Fühlen

Ich benötige zuerst „1. äußeres Hören“. Ich höre mir alle Tunes, die ich lernen möchte, an. So oft, dass ich sie im „Kopf“ habe. Hier folgt jetzt mein „2. inneres Hören“ Der Tune spult sich immer wieder im Kopf ab. Sehr effektiv wirkt sich auch das Singen, ob laut oder leise im Kopf aus. Dann erst fange ich an, die Noten zu lesen (3. äußeres Sehen). Und schon fällt es mir deutlich leichter, zu erkennen was auf dem Blatt vor mir steht und ja, ich brauche die Noten sogar um den Tune zu lernen und zu spielen. Wenn es sich um Tunes handelt, die ich sehr mag und mit denen ich mich identifizieren kann, entstehen in meinem Kopf Bilder (4. inneres Sehen) die wiederum positive Emotionen (5. inneres Fühlen) auslösen. Etwas in Verbindung mit positiv, aktivierender Emotionalität zu lernen, kreiert ein durchaus erfolgreiches Lernklima. Schließlich heißt es ja nicht umsonst „E-motion“ = Bewegung. Es obliegt mir, mich zu entscheiden in welche Richtung ich mich bewege, ob ich unter Zwang oder ob ich mit Freude lerne.

Toll finde ich immer, wenn es Lehrer gibt, die hier entsprechende Sinne bemühen in dem sie mir etwas in Bildern oder Metaphern erklären. Zum Beispiel die Doubling Variation eines Piobaireachds wie ein Uhrpendel zu spielen…und tatsächlich habe ich seitdem immer vor Augen, wie ein großes goldenes Uhrpendel hin und her schwingt. Ein schönes Beispiel ist auch Donald MacPhee, der beim Versuch, uns in einem Workshop die Eigenschaft eines Strathspeys nahezubringen, Papierblätter auf dem Boden verteilt hat. Diese Papierblätter sollten Trittsteine in einem Fluß darstellen, über die es galt, leichten Fußes, mit nur einer kurzen Berührung zu hüpfen, ohne nasse Füße zu bekommen. Man möge sich jetzt Donald vorstellen, wie er Anlauf nahm und leichtfüßig über den Fluß setzte, was er uns tatsächlich demonstrierte. Und das ist das prägende Bild in meinem Kopf, wenn ich heute Strathspey höre und spiele. Ein über den Fluß hüpfender Donald MacPhee. Ein Schelm der Böses dabei denkt...ich fand und finde es nach wie vor toll. Ohne jegliche Ironie, die man mir vielleicht an dieser Stelle nachsagen möchte, wenn man Donald MacPhee kennt.


Was mach ich aber jetzt mit meinen Vögelchen im Baum, wenn sich wieder ein Sturm ankündigt? In puncto Notenlesen haben sie gelernt, nicht vor jedem Sturm davon zu fliegen, sondern cool zu bleiben und erst einmal abzuwarten ob der Sturm wirklich so schlimm wird oder nur etwas an den Zweigen rüttelt. Natürlich sind sie aufgeregt und der ein oder andere fliegt davon. Aber dann werden sie behutsam wieder eingefangen und liebevoll in den Baum zurückgesetzt. Mit der Routine kommt mehr Entspannung, auch weil die Konstrukte in der Musik oder den Tunes wiederkehrende sind und gleichen oder ähnlichen Mustern folgen. Ich habe gelernt, meine „Legasthenie“, die eigentlich keine wirkliche ist, zu akzeptieren. Sich den unangenehmen Situationen stellen, hat das „Panikprogramm“ kleiner werden lassen und den „Breitbandausbau“ in meinem Kopf gefördert. Und…ganz wichtig…ich treffe die Entscheidung, wie schnell ich etwas lernen kann und möchte und kommuniziere das auch…das hält meine Vögel mittlerweile ganz gut im Baum.





When the birds fly out of the tree...or how does a "note dyslexic" learn?


When the birds fly out of the tree it gets quiet. Quiet in my head...my inability to concentrate or focus on things when I am under pressure feels that way. The pressure is like a storm that first causes unrest in the tree and eventually causes thoughts to fly like birds out of the tree...or just my head. I already know this phenomenon from math class, where my tree was regularly swept empty. It's still the case today that I can't do mental arithmetic under time pressure, tell where right or left is on command, or read notes. Of course I can do arithmetic, I know where right and left are and, if I have peace of mind while studying, I can read notes. The storm that scares my birds out of the tree is called time pressure. As soon as time pressure comes into play, for example because someone expects something from me at that moment...asked me a math problem or asked me for directions, I mutate into a dyslexic. I avoid arithmetic wherever possible...I don't even like to think about it...before the birds leave the tree, they fall right off the branch in this case. When giving directions I wave my arms and show the way with big gestures by pointing to the right or left during the description and after a short, strained thought I can also tell the right direction.

And what does a note dyslexic do? I have always blamed my difficulties with "reading music from the page" on the fact that I started learning music very late. I think I must have been around 30 years old, and until then I had only ever played music by ear. Suddenly I was supposed to read what I had heard anyway. In the beginning, my fingers always knew what they were supposed to play before my eyes had registered the notes and passed them on to my brain at narrow-band speed. Until my brain then gave the command to the responsible fingers, what to do, went again some time... means I had a really long line. And I still have it today when it comes to learning new tunes. I try as much as possible to avoid starting and learning a new tune directly with the teacher in class. Precisely for the reason of my slow-motion stimulus transmission between eye-brain-brain-finger. Here I simply need my own time and speed to grasp with my scanner what is written on the page. THERE...there is already a lot of fluttering in the tree when I don't know the tune yet and the pressure builds up to have to play something from the sheet if I don't know how it sounds. There are people who just look at a sheet of music and say: "Yes, sounds good". Unfortunately, I'm not one of them...and what can I say...I don't think it's a bad thing. I don't think there's anything wrong with listening to the tunes beforehand. Why torture yourself to play something you've never heard before? It may be that I'm taking the path of least resistance here and some "old school" teachers think you have to be able to do so and so and try to sight read and implement things. Why? What's wrong with trying your ears first? Nowadays I find it absolutely legitimate to adapt learning strategies to one's own abilities and skills, but it also presupposes a certain "flexibility" on the part of the teacher.

When there was no sheet music for piping in today's form, the songs were sung and the student learned to play according to the teacher's singing. His greatest allies in learning were his ears and not his eyes. The best example of this is the Canntaireachd in the Piobaireachd. Anyway, the fact is that the more senses are involved in the learning process, the more effective it is, or the more effective it is to implement what has been learned. I have found that I need exactly 5 senses to learn my tunes.

These are:

1. external hearing

2. inner hearing

3. outer seeing

4. inner seeing

5. inner feeling


I need "1st external listening" first. I listen to all the tunes I want to learn. So often that I have them in my "head". Here now follows my "2nd inner listening" The tune rewinds over and over in my head. Singing, loudly or softly in the head also has a very effective effect. Only then do I start to read the notes (3. outer seeing). And already it is much easier for me to recognize what is on the sheet in front of me and yes, I even need the notes to learn and play the tune. If the tunes are ones I like a lot and can identify with, images (4. inner seeing) arise in my mind which in turn trigger positive emotions (5. inner feeling). Learning something in connection with positive, activating emotionality creates a thoroughly successful learning climate. After all, it is not called "E-motion" = movement. It is up to me to decide in which direction I move, whether I learn under duress or with joy.

I always find it great when there are teachers who try to use the appropriate senses by explaining something to me in pictures or metaphors. For example, playing the doubling variation of a Piobaireachd like a clock pendulum...and indeed, since then I always have in mind how a big golden clock pendulum swings back and forth. A nice example is also Donald MacPhee, who, when trying to teach us about the property of a strathspey in a workshop, spread sheets of paper on the floor. These paper sheets were supposed to represent stepping stones in a river, over which it was necessary to hop lightly, with only a short touch, without getting wet feet. Now imagine Donald taking a running start and light-footedly stepping over the river, which he actually demonstrated to us. And that is the defining image in my mind when I hear and play Strathspey today. A Donald MacPhee leaping across the river. A scoundrel who thinks evil of it...I found and still find it great. Without any irony, which you might want to accuse me of at this point, if you know Donald MacPhee.


But what do I do now with my little birds in the tree when another storm is approaching? In terms of note reading, they have learned not to fly away from every storm, but to stay cool and wait to see if the storm is really going to be that bad or if it's just something shaking the branches. Of course they are excited and one or the other flies away. But then they are gently recaptured and lovingly placed back in the tree. With routine comes more relaxation, also because the constructs in the music or tunes are recurring and follow the same or similar patterns. I have learned to accept my "dyslexia", which is not really one. Facing the unpleasant situations has made the "panic program" become smaller and has promoted the "broadband expansion" in my head. And...very importantly...I make the decision how fast I can and want to learn something and communicate that as well...this keeps my birds in the tree quite well by now.


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